Mein Blick auf Andere


„Schließe deine Augen und stelle dir einen Stein vor. Wie sieht er aus? Was zeichnet ihn aus? Wie fühlt er sich an? – Jetzt legt dir jemand einen Stein in die Hand. – Öffne deine Augen noch nicht! Ist der Stein schwerer oder leichter als erwartet? Wie ist die Oberfläche des Steines verglichen mit deiner erdachten Oberfläche? – Dann öffne deine Augen! Betrachte den Stein eingehend? Was kennzeichnet? Was unterscheidet ihn von deinem erdachten Stein?“

Nachdem wir diese Schritte durchlaufen hatten, sprachen wir mit dem Psychologen darüber, welche Gefühle in uns ausgelöst wurden. Waren wir enttäuscht vom realen Stein, oder positiv überrascht? Konnten wir den neuen Stein schätzen, oder wollten wir ihn loswerden?

Diese Übung verdeutlicht auf eindrucksvolle Weise eine Grundweisheit des Lebens. Bevor ein Mensch geboren wird, machen sich seine Eltern Gedanken, wie dieser wohl seien könnte. Sie malen sich sein Aussehen, seinen Charakter aus. Doch wenn sie ihr Kind dann kennenlernen, ist es immer anders als von ihnen erwartet. Das ist nicht schlimm, sondern natürlich. Entscheidend ist jetzt nur, wie die Eltern mit dem Unterschied zwischen Erwartung und Realität umgehen. Für die kindliche Psyche und die Beziehung zueinander wäre es entscheidend, dass die Eltern ihr altes Bild loslassen können und sich dem Ist-Zustand zuwenden und diesen lieben. Denn Kinder, die mit einem Blick angesehen werden, der ihnen zeigt: „Du bist nicht so, wie ich dich gerne hätte!“, werden sich verbiegen, um zu gefallen und davon seelische Schäden erlangen.

Mich hat diese Übung wachgerüttelt. Ich fühlte mich ertappt. Meine Vorstellungen von meinen Kindern waren wirklich so ganz anders als ihr wirkliches Wesen. Kann ich es schaffen, meine Wünsche loszulassen und das dankbar annehmen, was im Kind angelegt wurde? Kann ich die wahre, natürliche Schönheit meiner Kinder erkennen? Gott, kannst du mich deinen liebevollen Blick auf uns Menschen lehren?

Nicht nur Kinder wünschen sich, dass ihr Gegenüber sie bedingungslos annimmt. Alle Menschen würden aufblühen, wenn wir ihr jetziges Ich mit freundlichen Augen ansehen würden und ihnen nicht unsere Erwartungen überstülpten. Wenn ich daran denke, mit welchen Menschen ich am liebsten Zeit verbringe, dann sind das immer Menschen, die mich als Manuela, so wie ich bin, mögen. Mit all meinen Besonderheiten. Die aushalten, dass sie nicht alles an mir verstehen können und werden und es auch sein könnte, das ich vielleicht immer so bleibe, wie ich jetzt bin. Kleine Kinder sind solche Personen und für mich ein riesiges Vorbild. Sie nehmen ihr Gegenüber so, wie es ist, in der Gegenwart.

Gebet: Gott, schenke mir einen liebenden, annehmenden Blick für meine Mitmenschen. Lass mich die Andersartigkeit und Fremdheit des anderen als Gewinn verstehen und erleben.



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