Mein Chaos


„Schnell, räumt euer Geschirr weg!“, höre ich mich rufen und schiebe den übervollen Wäschekorb wie einen Bob in das Schlafzimmer, dessen Tür ich hektisch hinter mir schließe. Hastig sammle ich ein paar der gleichmäßig in der Wohnung verteilten Spielzeuge ein und stopfe sie in irgendeine Spielzeugkiste. Dann sprinte ich ins Bad, krame die Bürste aus der Schublade und ermutige meine Haare dazu, in einigermaßen ordentlichen Bahnen zu liegen, während ich nebenbei meine getönte Tagescreme mit den Lippen aufschraube, um die Müdigkeit der Nacht zu vertreiben. Schon klingelt es an der Haustür. Ich öffne noch immer etwas außer Atem und hoffe, dass meine zugegebenermaßen nicht sehr breiten Schultern den Geschirrberg in der Küche hinter mir verdecken. – Spontan angekündigter Besuch – willkommen bei uns!

Vielleicht zählt ihr wie unsere ehemaligen Nachbarn zu den Menschen, bei denen zu jeder Zeit des Tages und nicht nur einmal im Monat alles am dafür vorgesehenen Platz steht. Ihr besitzt Superkräfte – anders kann ich mir das nicht erklären. ? Und obwohl ich mich in einer geordneten Umgebung wirklich wohl fühle und mir ständig Dokus über Aufräumprofis und Minimalismu anschaue, der kreativen Chaotin in mir gelingt es einfach nicht, diesen Zustand auf Dauer zu halten.

Doch sollte sich einmal Besuch ankündigen – und meist tut er das ja mit etwas Vorlauf, dann mobilisiere ich alle meine Kräfte, um ein vorzeigbares Zuhause vorweisen zu können… Die Freunde und Verwandten sollen sich ja wohl fühlen! Oder ist es mir nur zu peinlich, mein wahres Ich zu zeigen?

Glücklicherweise bin ich mit Freundinnen gesegnet, die mir einen Alternativ-Weg zeigen: Sie leben Gastfreundschaft und das ohne perfekt aufgeräumte 4-Wände. Irgendwie berührt es mich, dass es für sie einen höheren Stellenwert hat, mich bei sich zu haben, als ihr Chaos gekonnt zu verstecken.

Denn, sind wir mal ganz ehrlich zu uns: Vor anderen wollen wir so ansprechend wie irgend möglich auftreten! Ich weiß, wovon ich spreche, ist mir die Meinung meiner Mitmenschen über mich doch erschreckend wichtig! Vor den Augen der anderen würde ich am liebsten in allen Bereichen Höchstleistung erbringen – doch das tue ich nun einmal nicht!!! Und eigentlich ist das doch gar nicht so schlimm, oder?

So gerne ich die durchgestylten Wohnzeitschriften aus meinem Regal ziehe und so sehr ich mich an ästhetischen Mode- und Portraitfotografien erfreuen kann, mein Herz berühren am meisten die Menschen, die sich ECHT vor mir zeigen. Echt aufgeräumt, organisiert und top gekleidet oder echt wild und in Jogginghose. Einen echten Menschen kann man anfassen, man fühlt sich wohl in seiner Nähe, weil da nichts Aufgesetztes ist und vielleicht traut man sich in seiner Nähe auch, man selbst zu sein!

Diese Zeilen heute sind eine Einladung. Eine Einladung, sich echt zu zeigen. Und vielleicht sogar der Anstoß, Echtheit sogar über den Ordnungsgedanken hinaus zu leben. Trauen wir uns, mit ausgewählten Menschen unsere tiefsten Wünsche, Gefühle und Gedanken zu teilen, selbst wenn sie heillos durcheinander und vielleicht sogar abschreckend wirken? Gibt es Menschen, vor denen wir unser inneres Chaos ans Licht bringen? Wie oft habe ich mich im ersten Moment dafür geschämt, wenn andere die verletzliche Manuela gesehen habe und war dann überrascht, wie der andere plötzlich auch mutig war, mehr von sich zu erzählen.  

Ich weiß, gerade, im Lockdown, können wir niemanden in unser Wohnungschaos lassen, aber vielleicht schicken wir einem lieben Menschen eine Sprachnachricht und erzählen, wie es uns gerade wirklich geht. Du bist es wert, für dein echtes Ich geliebt zu werden! Von deinem Schöpfer wirst du es eh schon.


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